
Wie bereits unter dem Kapitel Vini-Yoga – dem achtgliedrigen Weg – geschrieben, gab es bei Patanjali zunächst nur eine Haltung, den Lotussitz. Dazu beschreibt er genau die Qualitäten, die diese Haltungen leiten. Mehr dazu HIER.
Das Ziel ist, mit Hilfe des „Werkzeugs“ Asana den Geist immer weiter zu beruhigen.
Im Vini-Yoga arbeiten wir mit der Trias von Körperhaltung / Bewegung + Achtsamkeit + Atmung. Hierbei wird die Bewegung der Atmung untergeordnet. Das Tempo der Bewegung orientiert sich am gleichmäßig und ruhig fließenden Atem. Dies geschieht unter dem mentalen Aspekt des Gewahrseins. Auf diese Weise bleiben wir während des Übens in Harmonie, Leichtigkeit und Wohlbefinden.
Die körperlichen Vorteile eines Asanas
Dennoch erweitern wir dabei ständig unsere körperlichen Grenzen – und zwar genau in dem Tempo, das unser Körper braucht um „zu wachsen“ und auch – um wieder „heil zu werden“. – Im Gegensatz zu Sport und teilweise Physiotherapie, ist hier nicht die körperliche Leistung das Ziel, vielmehr das Wohlbefinden in unserem Körper, welches die Voraussetzung für einen ruhiger werdenden Geist schafft. Leistungsgedanken oder gar Leistungsdruck, aber auch Gedanken an einen tollen Body und Schönheit, lenken uns nur ab und stören unseren Geist.
Eine sinnvolle Auswahl und Zusammenstellung von Asanas soll unsere körperliche Heilung unterstützen und unseren Körper stärken. Im Zustand einer Krankheit ist die Schulung eines ruhigen Geistes schwierig, denn Schmerzen und Unwohlsein nehmen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, verbinden sich mit störenden Emotionen. Das bedeutet STRESS im Vegetativen Nervensystem, also auch zurück in den Teufelskreis des Gedankenkarusells.
Schaffen wir es hingegen angenehme Bewegungsräume zu schaffen, in denen uns der Körper in Leichtigkeit ein Ausweiten erlaubt, stärkt dies nicht nur das Selbstvertrauen des Übenden, sondern hilft ihm seine Kompetenzen zu erweitern. In der Yogatherapie nutze ich das eigene „Biofeedbacksystem“ des Patienten und schule die Verbesserung des Fühlens und Spüren der Möglichkeiten und Grenzen. Der Patient lernt so, seine Grenzen zu respektieren und mitfühlend und kooperativ mit seinem Köper umzugehen. Er findet neue Möglichkeiten mit seinem Körper umzugehen – auch bei Schmerzen und Einschränkungen.
Ganzheitliches Training für den Körper

Aus physiotherapeutischer Sicht kann ich mit Asanas sehr physiologisch und ganzheitlich trainieren. Ganzheitlich bedeutet hierbei, dass ich den Bewegungsapparat in seiner ganzheitlichen Funktion ansprechen kann, dynamisch bis statisch genau auf den Menschen und seine Bedürfnisse abgestimmt. Die Bewegungsabläufe sind in den funktionellen Bewegungsmustern, die wir im täglichen Leben und im Sport brauchen.
Beispiel Krafttraining: hier übt man isolierte Bewegungen die man so im Alltag kaum macht.
In den Asanas üben wir nicht nur von einer Bewegungsrichtung in die Gegenbewegung und nutzen so den vollen Bewegungsumfang des ganzen Körpers. Wir bewegen uns zudem physiologisch im dreidimensionalen Raum über die Körpermitte hinweg in die Diagonale. Dies entspricht der Leistungskapazität und der Anatomie der Wirbelsäule, Muskeln, Faszien und Gelenke. Wir sprechen alle in ihrer vollen funktionellen Kapazität an und fördern sie damit optimal.

Wir trainieren unseren Körper so, dass er in seine natürlichen Möglichkeiten zurückfinden kann. Durch unser „modernes Leben“ nicht bei drastischem Bewegungsmangel, Einseitigkeit, viel „Stuhlsitzen“ mit vornübergebeugter Haltung – sind wir zum „Homo Sapiens Sedens“ verkümmert! Denken wir nur mal an Handy, PC, Auto, usw.
Mit gezielt zusammengestellten Asanas und Abfolgen von Asanas – Vinyasas – haben wir also die Möglichkeit ausgleichend zu unserem „Zivilisationsverhalten“ den Bewegungsapparat in seinen Funktionen zu verbesser und „wiederherzustellen“, indem wir Haltungsprobleme, Muskeldysbalancen, Muskelschwächen, Verkürzungen, Versteifungen, Faszienproblemen und Verpannungen gezielt entgegenwirken können. Kraftaufbau + Stabilität, Mobilisation + Beweglichkeit, Koordination + Gleichgewicht sind Themen.

Im Zentrum steht immer die Wirbelsäule von der alle Körperbewegung ausgeht. Beweglichkeit, Stabilität und Ausgleich von Verkrümmungen und Schiefständen gehören zu den Zielen eines Asanas dazu. Nur so werden Bewegungen des ganzen Körpers kraftvoll, harmonisch, effektiv und ökonomisch möglich.
Richtig zusammengestellt wirken Asanas ganzheitlich auch im Sinne von kreislaufstabilisierend, blutdruckregulierend, verdauungsfördernd, Lymphflussanregend und atemerweiternd und regulierend.
Mit dem Körper unsere Grenzen ausweiten
Übungsprogramme werden so angelegt, dass der Übende in Richtung seiner Grenzen geht. Die Grenzen werden ausgelotet und sanft erweitert, ganz ohne Druck oder Leistungsdenken. Der Körper gibt bei richtiger Dosierung nach und wir erleben die Erweiterung. Unser „Biofeedbacksystem“ hilft uns mit der Zeit immer besser die Grenzen zu erfahren und uns dabei nicht zu überfordern.
Mit dem Erleben der Ausweitung der körperlichen Grenzen und unserer wachsenden Fähigkeiten erleben wir uns auf allen Ebenen neu. Wir spüren und verwirklichen unsere Potentiale – das wirkt auf allen Ebenen!
Unser Körper als „Realitätsschalter“
Unser Köper nimmt die zentrale Rolle ein bei dem Erleben der Außen- wie auch unserer Innenwelt. Ohne Körper keine Erfahrung, kein Erleben! Unsere Sinne sind unsere Sensoren und schauen was in uns und außerhalb von uns passiert. Er reagiert aber auch sofort auf unsere Gedanken. Unser Gehirn kann unsere Gedanken – wie auch unsere Träume – nicht von unserer erlebten „Realität“ unterscheiden!
Egal, ob gerade ein Tiger auf mich losläuft, ein Gedanke an meinen ungerechten Chef meine Wut hochkochen lässt, mir die Erinnerung an eine Abendheuerfahrt mit dem Kajak einen Schauer der Aufregung über den Rücken laufen lässt, mir nach einer durchfeierten Nacht Übelkeit in mir hoch steigt, mir bei dem Blick meiner neuen Liebe die Schmetterlinge in den Bauch fliegen oder mir Schmerzen die Luft rauben. Ich fühle – und daraus ergibt sich eine Bewertung meiner Welt und meiner Selbst. In meinem Gehirn entsteht dann – unter Abgleichung meiner Erfahrungen und meines Wissens – ein Gefühl für meine individuelle Realität, mit der Qualität meiner jeweiligen Befindlichkeit.
Was ich und wie ich es fühle und wahrnehme, verändert sich über Yoga – über ein Asana. Das Erleben der körperlichen Erfahrung verändert auch meine mentale und emotionale Ebene. Wenn z. B. jemand depressiv ist, kann er sich neu erleben in der Haltung des Helden.

Wiederholt er dies öfters, ändert sich sein Gefühl und seine Sicht auf das Leben, sowie auf sich selbst. Er wird zum „Schöpfer“ seiner individuellen Realität.
Wenden wir also in bestimmten emotionalen Zuständen gezielt Asanas mit entprechenden Wirkungen an, können wir Einfluß nehmen.
Asana auf emotionaler & geistiger Ebene
Hier geht es um einen Raum für Erfahrungen – Selbsterfahrungen. Der Übende nähert sich nicht nur zunehmend dem eigenen Körper mit seinen wahren Grenzen, sondern über die Körperempfindungen auch den dahinter liegenden Emotionen und Impulsen.
Diese Impulse kommen aus seinen persönlichen erlernten Verhaltensmustern wie z. B. Leistungsdruck, Perfektionismus u. v. m. Oft drücken sie sich auch als Gedanken aus, denen er/sie dann Folge leistet:„Stell Dich nicht so an, da geht doch noch was…!“ – Sie können ebenso aus negativen Gefühlen entpringen, die aus schlechten Erfahrungen und traumatisierenden Erlebnissen stammen. So erlebe ich oft Menschen, die eine unglaubliche Abneigung gegen ihren Körper und Bewegung haben, wenn sie als Kinder schlechte Erfahrungen mit dem Schulsport gemacht haben. Ich erlebe Patienten, die ihrem Körper nicht mehr trauen – ihm nichts mehr zutrauen, weil die chronischen Schmerzen sie lange im Griff hatten.
Diesen Gedanken und Impulsen nicht unbewusst bedingungslose Folge zu leisten ist das Ziel in einem Asana, um sich so aus dem Automatik-Programm der erlernten Muster zu befreien. Durch wachsendes Bewusstsein erhält der Übende immer mehr die Wahl und damit die Möglichkeit, neue Wege zu erproben. Neue Erfahrungen mit sich selbst werden möglich.
Die „Identifizierung“ und das Festhalten an einer persönlichen Verhaltensweise nach dem bekannten Spruch: „Das bin ich / Das bin ich nicht!“ / „Ich bin unsportlich“... – lernt er loszulassen. Er kann damit seine Grenzen sprengen und seine wahren Potentiale entdecken.
Beim Üben wird der Übende sich seiner aufsteigenden Gefühle und Gedanken gewahr, was es in ihm denkt und wie fleißig sein Geist schon längst wieder auf der Arbeit ist – obgleich er noch zuhause auf der Matte liegt…. Es wird ihm bewusst, dass er denkt und WIE und WAS er über sich denkt.

Aufbau einer Asana -Reihe
Maßgebend ist immer der Übende mit seiner körperlichen, mentalen und emotionalen Ausgangsposition sowie seinen Bedürfnissen und Wünschen. Somit wird jedes Übungsprogramm anders aussehen. Wir beginnen klein mit einfachen Asanas, machen Erfahrungen und erweitern und verändern die Übungsreihe immer wieder. Der Übende bestimmt das Tempo. Die Übungsreihe wird an die Tageszeit – wo sie praktiziert werden soll, angepasst – wie auch an die individuelle Situation. Anregung für den Morgen, zur Ruhe kommen am Abend, Erfrischung & Power im Büro, Angstreduktion vor einer OP, Schmerzbeeinflussung bei einer Erkrankung, Erlebnismöglichkeiten ausweiten im Rollstuhl, aber auch zu sich kommen für einen Sterbenskranken.
Ich mache das Asanas nur selten vor, denn ich möchte für den Übenden kein Maßstab sein. Körper und Traingszustand sind nicht gleich, damit auch nicht die Möglichkeiten. Das unwillkürliche Kopieren würde nur ablenken von den eigenen Möglichkeiten. Es geht nicht darum, ein Asana in der äußeren Form nachzuahmen und perfekt abzuliefern, sondern seine eigene sehr individuelle Form zu finden. Ich greife nur ein, wenn ich merke, dass eine Bewegung für den Körper belastend / schädlich sein könnte.
Jede Übungsreihe enthält einen Aufbau, in der eine Übung die kommende vorbereitet. Wir üben auf ein Ziel zu, sozusagen einem Höhepunkt. Dabei nutzen wir das in dem Moment mögliche volle Bewegungsspektrum einer Bewegung bis zum Ende – dann gehen wir in die Gegenbewegung.
In den Asanas steht die Wirbelsäule dabei in der führenden Rolle. „Rückbeugen“ wechseln sich mit „Vorbeugen“ ab, Drehungen und Seitneigen in beide Richtungen. So erhalten wir eine sanfte Mobilisierung aller Gelenke, Muskeln und Faszien über den gesamten Körper hinweg. Jede Haltung / Bewegung wird wieder ausgeglichen – harmonisiert. Alle Muskelketten werden dabei angesprochen und trainiert.
Das Nachspüren in Ruhe ermöglicht uns noch tiefer ins Fühlen und in die Ruhe einzukehren, um so die „Früchte“ des Übens vertiefen und genießen zu können. Dieses positive Erleben des Körpers und seiner selbst stärkt uns am Ball zu bleiben.
Körper als erster Zugang zu uns
In einer Zeit, wo unser Körper zwar mit seinen äußeren Qualitäten wie Schönheit, Figur eine immer größer gewordenen Rolle spielt, brauchen wir ihn immer weniger für unser tägliches Leben. So fehlt vielen Menschen das Training komplexer Bewegungen und Belastungen. Im Büro spüren wir den Nacken erst, wenn er sich nach anstrengender Arbeit mit Schmerzen meldet. Wir haben „erfolgreich“ gelernt ihn auszublenden. Bis uns seine Signal endlich erreichen, ist schon viel passiert.
Oder wir nutzen unseren Körper wie eine Maschine und trimmen sie auf Leistung und Aussehen – und merken dabei nicht, dass er ein Teil von uns in diesem Leben ist. Das geschieht oft selbst im Yoga – aus Unwissenheit und Ehrgeiz. So können unpassend ausgeführte Asanas langfristig zu körperlichen Schäden führen.

Wir haben in unserer Kultur perfekt gelernt, „negative“ Gefühle zu verdrängen, auszublenden über Ablenkungen jeglicher Art. Wir haben – mit anderen Worten – keine Erfahrung mehr mit dem Fühlen und mit einem angemessenen Umgang damit. – „Uns fehlt das Gefühl für uns!“
Unser eigenes Biofeedbacksytem ist ungeübt. Es kann uns nicht viel helfen, meist erst sehr spät, wenn unser Körper anfängt mit Schmerzen uns „anzuschreien“.
Aus diesen Gründen sind in der heutigen Zeit Asanas der erste Zugang. Sie sind der erste Schlüssel zu uns selbst – zu einem wahrhaftigeren und freien Selbst. Sie bereiten uns für die schwierigeren Stufen vor: Pranayama und Meditation.